Die Mosaiktheorie des BGH erklärt – warum Zeugen im Strafprozess manchmal schweigen dürfen
- Dogukan Isik
- vor 3 Tagen
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Wer schon einmal eine Gerichtsverhandlung verfolgt hat, kennt die Szene: Ein Zeuge nimmt Platz, beantwortet die ersten Fragen – und plötzlich sagt der Anwalt: „Mein Mandant macht von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.“ Für Außenstehende wirkt das oft befremdlich. Warum schweigt jemand, der doch eigentlich nur als Zeuge geladen ist?
Eine Antwort darauf liefert die sogenannte Mosaiktheorie des Bundesgerichtshofs (BGH).
Was steckt hinter der Mosaiktheorie des BGH?
Stellen wir uns vor, eine Aussage sei wie ein einzelnes Puzzleteil. Für sich allein sieht das Teilchen harmlos aus. Vielleicht erkennt man nur ein bisschen Himmel oder eine Ecke vom Bildrand. Erst wenn man viele Teile zusammensetzt, entsteht ein Bild.
Genau so ist es im Strafprozess: Auch scheinbar belanglose Antworten eines Zeugen können – zusammengefügt mit anderen Informationen – ein belastendes „Mosaik“ ergeben. Und wenn dieses Bild am Ende den Zeugen oder ihm nahestehende Personen (oder einen selbst) in ein schlechtes Licht rückt, könnte das strafrechtliche Folgen haben.
Damit niemand gezwungen ist, sich selbst durch solche „kleinen Puzzleteile“ zu belasten, dürfen Zeugen die Aussage verweigern. Geregelt ist das in § 55 Strafprozessordnung (StPO).
Eine Erweiterung des § 55 StPO stellt die Mosaiktheorie dar. Die Mosaiktheorie geht auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zurück (Beschluss vom 7. Mai 1987, 1 BJs 46/86 — I BGs 286/87), in der der BGH ausführt, dass einzelne Tatsachenausschnitte in einem «mosaikartigen Beweisgebäude» eine belastende Bedeutung gewinnen können und der Zeuge daher die Beantwortung auch scheinbar harmloser Fragen verweigern darf, wenn sich aus der Gesamtschau ein Verdacht ergibt. Konkret ging es um die Mitwirkung der Zeugen an einem Brief, die für sich genommen keine Straftat darstellte, im Kontext jedoch an eine mögliche Mittäterschaft anknüpfte. Die Zeugen durften insoweit insgesamt die Aussage verweigern.
Die einschlägige Praxis und Kommentarliteratur haben die Mosaiktheorie aufgenommen, erläutert und kritisiert: Während praktisch orientierte Beiträge die Theorie als notwendiges Instrument zur Wahrung des Selbstbelastungsverbots hervorheben, betonen andere Stimmen die Gefahr einer zu weiten Auslegung, die der Wahrheitsfindung im Ermittlungsverfahren nachteilig sein kann. Diskussionspunkte sind insbesondere die Frage nach dem erforderlichen Nähegrad zwischen Frage und möglicher Selbstbelastung, die Erforderlichkeit der Behauptung einer konkreten Gefahr und die Rolle des Tatrichterprüfungsmaßstabs gegenüber pauschalen Aussageverweigerungen.
Der aktuelle Fall – angeklagter Staatsanwalt Hannover
Besonders sichtbar wird das gerade im viel beachteten Prozess um den angeklagtenStaatsanwalt Yasha G. vor dem Landgericht Hannover. Mittlerweile wurden mehr als 50 Hauptverhandlungstermine für diesen recht komplexen Fall vom Landgericht Hannover anberaumt auf den sicherlich die gesamte deutsche Justiz und niedersächsische Politik schaut. Ich selbst vertrete als Strafverteidiger in Hannover in diesem Mammut-Prozess in Deutschland den Mitangeklagten, der laut Anklage als „Coach“ aufgetreten sein soll.
Mehrere Zeugen haben dort – teilweise nach Beratung durch ihre Anwälte – die Aussage verweigert. Ihre Begründung: Auch scheinbar harmlose Angaben könnten ein weiteres Puzzlestück in das große Bild der Anklage einfügen und könnten dazu führen, dass sich die Zeugen selbst belasten, so einige der Zeugenbeistände.
Das zeigt: Die Mosaiktheorie ist keine graue Theorie aus juristischen Lehrbüchern, sondern spielt mitten in dem Verfahren um den angeblich korrupten Staatsanwalt in Hannover eine entscheidende Rolle.
Ein Balanceakt zwischen Aufklärung und Schutz
Die Mosaiktheorie verdeutlicht einen Kernkonflikt im Strafprozess: Auf der einen Seite steht das Interesse an vollständiger Aufklärung. Auf der anderen Seite steht das Recht jedes Einzelnen, sich oder einen nahen Angehörigen nicht selbst in Gefahr der Strafverfolgung zu bringen.
Gerade in großen und komplizierten Verfahren – wie dem Prozess „angeklagter Staatsanwalt in Hannover“ – wird dieser Balanceakt besonders deutlich. Als erfahrener Strafverteidiger in Deutschland ist die Mosaiktheorie deshalb kein Randthema, sondern ein Handwerkszeug, um den Mandanten als Zeugen wirksam zu schützen.
Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wer im Gerichtssaal schweigt, tut das oft nicht, weil er „etwas zu verbergen“ hat. Sondern weil er nicht gezwungen werden darf, mit seinen eigenen Worten ein Bild zu malen, das ihn oder andere in ernste Schwierigkeiten bringt.
Gerade in großen und komplexen Verfahren – wie dem Prozess in Hannover um den vermeintlich korrupten Staatsanwalt – wird dieser Balanceakt besonders sichtbar.
Fazit
Das aktuelle Verfahren in Hannover um den angeklagten Staatsanwalt in Hannover macht deutlich, dass die Mosaiktheorie kein bloßes Lehrbuchphänomen ist, sondern ein praxisrelevantes Verteidigungsinstrument darstellt. Sie stärkt die Position von Zeugen, indem sie verhindert, dass diese durch vermeintlich harmlose Aussagen ungewollt strafrechtliche Risiken eingehen. Zugleich zeigt sich aber auch die Spannungslage: Das Bedürfnis nach umfassender Wahrheitsfindung kollidiert mit dem Schutz des Einzelnen vor Selbstbelastung.
Gerade in komplexen Strafverfahren mit mehreren Beteiligten und einem vielschichtigen Tatvorwurf wird die Mosaiktheorie deshalb immer wieder zur prozessualen Schlüsselfrage — und zur Bewährungsprobe für eine faire Balance zwischen Aufklärungspflicht und Individualschutz.
Taktische Aspekte für die Verteidigung
Für die Verteidigung und den Zeugenbeistand eröffnet die Mosaiktheorie gleich mehrere Ansatzpunkte:
1. Verteidiger bzw. Zeugenbeistände sollten ihre Mandanten frühzeitig darauf hinweisen, dass sie nicht nur direkte Selbstbelastungen vermeiden dürfen, sondern auch Angaben verweigern können, die im Zusammenspiel mit anderen Tatsachen ein belastendes Bild ergeben könnten. Gerade in Verfahren mit vielen Beteiligten – wie im Fall um Yasha G. – kann jede noch so kleine Information Baustein in einem umfassenden Mosaik werden.
2. In der Hauptverhandlung zeigt sich regelmäßig, dass anwaltliche Zeugenbeistände eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie können in der konkreten Befragungssituation unmittelbar einschreiten und das Aussageverweigerungsrecht geltend machen. Für die Verteidigung des Angeklagten ist es daher wichtig, sich auf diese Dynamik einzustellen – und gegebenenfalls bei dem Bemerken von Unkenntnis des Zeugenbeistandes von der Mosaiktheorie das Schweigen von Zeugen aktiv zu stützen, wenn dadurch belastende Mosaikstücke gar nicht erst entstehen.
3. Wenn mehrere Zeugen ihr Aussageverweigerungsrecht ausüben, kann dies im Gerichtssaal eine starke Signalwirkung entfalten: Es zeigt, dass der Tatkomplex strafrechtlich hochsensibel ist und dass viele Beteiligte sich selbst nicht aus der Schusslinie sehen. Für die Verteidigung kann dieser Eindruck genutzt werden, um die Glaubwürdigkeit des Anklagebildes in Frage zu stellen. Den oftmals haben Zeugen einen guten Grund, keine Angaben vor Gericht machen zu wollen.
4. Ein zentraler taktischer Punkt ist die Grenze zwischen einer lediglich denkbaren und einer tatsächlich konkreten Gefahr strafrechtlicher Verfolgung. Hier lohnt es sich, gegenüber dem Gericht dezidiert herauszuarbeiten, warum die Gefahr im Einzelfall nicht nur abstrakt, sondern realistisch ist. Je besser dies gelingt, desto weiter wird das Schweigerecht akzeptiert und desto weniger Material kann die Staatsanwaltschaft aus Zeugenaussagen gewinnen.
5. In Verfahren, die stark von Indizien leben, kann das konsequente Schweigen von Zeugen verhindern, dass die Anklage ein zusammenhängendes Bild konstruiert. Die Mosaiktheorie wirkt hier wie ein „Schutzschirm“ gegen das Fortschreiben von Indizienketten. Für den Strafverteidiger bietet sich so die Möglichkeit, Brüche im Beweisgebäude aufrechtzuerhalten.
6. Zugleich darf der Strafverteidiger die Gefahren nicht übersehen: Häufen sich Zeugnisverweigerungen, kann bei Gericht oder Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass „niemand etwas sagen will“ – was psychologisch nachteilig für den Angeklagten wirken kann. Es ist deshalb Teil der Verteidigungsstrategie, diesen Eindruck durch klare Argumentation („Schutz vor Selbstbelastung, nicht Schuldgeständnis“) zu neutralisieren.
Praxis-Fazit
Die Mosaiktheorie ist nicht nur ein Lehrbuch Phänomen, sondern ein taktisches Werkzeug im Verteidigungsalltag. Sie erlaubt es, Zeugen vor Selbstbelastung zu schützen und zugleich die Beweisaufnahme der Staatsanwaltschaft zu begrenzen. Der Strafverteidiger muss dabei jedoch stets eine Doppelstrategie fahren: Einerseits den Schutzschirm des § 55 StPO weit interpretieren, andererseits die Außenwirkung der massenhaften Zeugnisverweigerung kontrollieren.
Im laufenden Verfahren gegen den angeklagten Staatsanwalt Yasha G. zeigt sich, dass genau diese Balance über den Verlauf der Hauptverhandlung entscheiden kann.
Als Rechtsanwalt in Hannover vertrete ich meine Mandanten bundesweit. Wichtig ist eine beidseitige Transparenz: Der beste Strafverteidiger in Deutschland kann nur so gut sein, wie er über den gesamten Sachverhalt aufgeklärt ist. Im Falle einer Anklage oder einer Zeugenladung sollten Sie daher mit dem von Ihnen ausgesuchten Rechtsanwalt für Strafrecht den Sachverhalt ausgiebig besprechen. Nur so kann Ihnen der Rechtsanwalt eine TOP Strafverteidiger Leistung erbringen.
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